Noch ist Sommer

by Gianna

Es ist Sommer und vor ein paar Monaten ist die große Angst eingezogen.  

Unangekündigt zog sie in unsere Haushalte ein und machte es sich bequem. Die Angst vor der unsichtbaren Seuche, fürchterlich sichtbar gemacht mit Zahlen, Daten, Fakten. Was die meisten Menschen bis dahin wohl eher selten bis gar nicht beschäftigt hat, grätscht auf einmal so dermaßen übergriffig in unseren Alltag, dass man gar nicht anders kann, als sich zu gruseln.  

Wir tun also das, was wir nun tun können.  

Wir informieren uns.  

Wir wenden uns an die, die sich wirklich auskennen.  

Wir hören, lesen, schauen, was sie uns sagen.  

Wir hüllen uns in Sagrotan, legen uns Stoff über Mund und Nase und stellen Plexiglasscheiben zwischen uns auf.  

Wir gehen auf Abstand, halten kaum noch Hände, drücken kaum noch unsere Körper gegen andere.   

Wir heulen leise, lachen hysterisch, essen und trinken resigniert.   

Wir passen uns an.  

Doch jetzt ist Sommer. Der Sommer, in dem alles noch so frisch ist, dass uns FFP2 und Mutationen bisher nicht begegnet sind. Es sind die letzten Tage, an denen wir der Gefahr noch durch selbst genähte Stoffmasken ins Gesicht lachen. Der Sommer, in dem das alles aber auch schon so lange das “neue Normal” ist, dass wir müde sind und einsam. Der Sommer, in dem wir verstehen, dass Partner:innen nicht als potentiell gefährliche Kontaktperson gelten, Freund:innen aber schon. Der Sommer, in dem wir das Wort Knuffelkontakt häufiger in den Mund nehmen als das Wort Inzidenz.  

Es ist Sommer und wir wollen weg von hier, wo die Gefahr an jeder Ecke lauern kann, wo sie an den Haltestangen unzähliger öffentlicher Verkehrsmittel und den Türklinken abertausender Gebäude nur auf uns wartet. Wir wollen weg, doch wir wollen nicht über Linien treten, denn auf einmal besteht Europa wieder aus seinen Grenzen und auf einmal ist es nicht mehr so selbstverständlich, diese zu überqueren. Auf einmal müssen sogar Binnengrenzen im Auge behalten werden und wir auf unserer kleinsten aller Binnenlandinseln schauen besorgt hinüber in das Land, das uns umarmt: Dürfen wir noch rüber zu euch? Nie war der Föderalismus so spürbar, denken wir und versuchen zu verstehen, was er da tut.  

Wir bewegen uns in diesem Sommer innerhalb der neu gesteckten Grenzen. Das Land wird nicht verlassen, das Bundesland schon, denn unseres kennen wir nur zu gut. Wir wollen hinaus, hinaus in die Niedersächsischen Weiten, denn die, so stellt sich heraus, kennen wir kaum. Wir rufen Karten auf, sehen uns Hütten, Häuser, Bungalows und Bauwagen an, googeln Orte, die allerhöchstens Dörfer sein dürfen, wenn man uns fragt. Es darf dort am besten nicht mal einen Supermarkt geben. Und wir finden den Ort, den wir suchen.  

Dieser Ort ist für niemanden ein Ziel, er ist lediglich einer dieser Abschnitte auf der Bundesstraße, auf dem man kurz 50km/h fahren muss. Er liegt zwischen der Autobahn und dem nächsten großen Lidl zwei Orte weiter. Er ist eine Haupt- und zwei Nebenstraßen zwischen zwei Ortsschildern.  

Unsere Auszeit vom aktuellen Geschehen, von der Realität, die wie eine Dystopie anmutet, beginnt am Tag der Abreise. Denn bevor es losgeht, müssen drei Frauen in ein Auto, und dafür muss die bis dahin geltende Vorsicht endlich aufgegeben werden. Knapp vier Monate lang haben wir höchstens unsere Schuhspitzen oder unsere Ellbogen aneinander gestupst und uns etwas zerknirscht angesehen. Jetzt stehen wir ein paar Minuten neben dem offen stehenden und voll gepackten Auto, ein eng geschlungener Knoten aus sechs Armen und Schultern und drei Köpfen und Hälsen, und juchzen einander glücklich in die Armbeugen, die Ohren, die Schultern. In diesem Sommer gibt es noch keine Schnelltests, es gibt nur das Motto: Jetzt ist’s auch wurscht. Wenn wir es jetzt kriegen, kriegen wir es wenigstens gemeinsam.  

Unser Ort ist knapp 200 Kilometer und eine ganze Welt von unserem Zuhause entfernt. Wir fahren Richtung Osten, so weit, dass wir sogar kurz eine weitere Bundeslandgrenze passieren. Es geht ein paarmal zwischen den beiden Ländern hin und her, weil die Straße nun einmal so liegt.  Nicht weit von hier lagert die Bundesrepublik ihren Atommüll.  

Wir nehmen einige Bundesstraßen, fahren durch eine malerische Kleinstadt am Fluss, bis links und rechts nur noch Wiesen und Felder an uns vorbeiziehen. Wir hören Hörspiele und schwelgen im Glück, endlich wieder auf engem Raum zusammen zu sein. Wenn wir es jetzt haben, haben wir es wenigstens gemeinsam.  

Je weiter wir in das niedersächsische Auenland vordringen, desto häufiger ruft die eine von uns, die sich auskennt, diverse Vogelnamen und zeigt nach oben oder auf die feuchten Wiesen, wo Greifvögel kreisen oder Zugvögel baden. Das Navi bestätigt unser Gefühl, dass wir bald da sein müssen. Wir rollen an einem Wasserloch vorbei, in dem sich lauter Wasserbüffel entspannt der Sommerhitze entziehen. Wir sollen nach rechts auf die Dorfstraße abbiegen. Ab hier lautet die Wegbeschreibung unseres Gastgebers wie folgt: nach dem Ortsschild noch ein kleines Stück geradeaus und dann am Storchennest rechts. Er meint damit keinen Straßennamen, sondern ein wahrhaftiges und bewohntes Storchennest. Wir holpern daran vorbei in eine Hofeinfahrt, steigen aus dem Auto und sehen uns an. Uns schwant nur Gutes.  

Unser Gastgeber zeigt uns kurz alles in dem alten Bauernhaus, in dem wir wohnen werden, dann führt er uns über das Grundstück. Es beginnt gepflastert am Haus, wird dahinter ein gepflegter Garten mit Wäschespinne und fällt dann eine ganze Weile ab, hinunter bis zum Fluss. Hier wird es wild, die Bäume und Gräser wachsen, wie sie wollen. Aus dem Schatten eines gewaltigen Brombeerbusches schleicht ein Kater hervor, beäugt uns misstrauisch aus der Ferne und verschwindet im hohen Gras. Mehrere Pfade führen durch das Dickicht hinab zum Fluss, daran entlang geht es zum äußersten Rand des Grundstücks. Dort steht eine Bank und schaut auf die zwei Flüsse, die sich hier treffen. Dahinter grasen Kühe. Sonst nichts. Unser Gastgeber macht eine Geste mit ausgebreiteten Armen und sagt, dass wir uns hier überall aufhalten und es uns gutgehen lassen dürfen und, wenn wir Glück haben, an dieser Stelle auch oft Biber unterwegs sind. Es ist warm, im Dickicht zirpt und summt es. Wir grinsen breit und ich schlucke, damit mir nicht die Tränen kommen.  

Ab jetzt stellen wir unsere Uhren auf langsam. Wir wachen nachts manchmal von der Kirchenglocke auf, die ausnahmslos jede volle Stunde verkündet, welche volle Stunde gerade ist. Aber das macht nichts, denn für die nächsten vierzehn Tage existieren keine Wecker. Wir stehen auf, wenn wir genug geschlafen haben. Wir gehen vom Bett auf die Couch und stecken unsere Nasen in Bücher, die wir lesen, bis wir Hunger kriegen. Wir lauschen tags den Staren, die in Gruppen von Baum zu Baum ziehen und sich dabei ununterbrochen anschreien, und nachts den Grillen, die flächendeckend sitzen und zirpen, dass es sich in die Ohren legt wie Watte. Wir schauen abends dazu Filme, die im Sommer spielen. Wir gehen tagsüber raus, von Kopf bis Fuß in Sonnen- und Mückenschutz eingehüllt, liegen mit unseren Büchern auf Handtüchern und gucken zwischendurch in die sachte tanzenden Baumkronen. Wir liegen nachts im taunassen Gras und lassen den Sternenhimmel durch unsere weit geöffneten Pupillen auf unsere Netzhäute fallen. Wir lassen uns von Mücken stechen, denn heute Nacht soll es Sternschnuppen regnen.  

Wir gehen täglich runter zum Fluss.  

Hier, wo das Grundstück zu Ende ist, sieht man das Haus nicht mehr. Hier fließt ein kleiner Fluss in einen anderen, beide tragen Namen, die einige Kilometer weiter schon niemand mehr weiß. Beide sind so flach, dass es einem höchstens die Knie umspielt. Doch hier, wo sie sich treffen, unterspült der eine den anderen so, dass es kurz und plötzlich tief wird. So tief, dass wir uns die Hitze aus den Gliedern waschen lassen und bequem abtauchen können, wenn die Bremsen kommen.  

Wir fahren ab und zu in den übernächsten Ort zum Supermarkt. Wir setzen unsere Stoffmasken auf und machen den Einkaufswagen randvoll, damit wir nicht so bald wieder losmüssen.  

Im Schrank im dunklen Hausflur hängt unsere Kleidung, das meiste wird bis zur Abreise nicht getragen. Es ist zu warm, selbst die Grillen wirken träge. Nur die Mücken, die feiern ein Fest und finden jeden Zentimeter Haut, der versehentlich nicht eingesprüht wurde. An den wenigen Tagen, an denen das Thermometer unter 36°C bleibt, wandern wir los, über Felder, durch Wälder, an Weidezäunen entlang. Hin und wieder bleibt die Ornithologin unter uns stehen und ruft Namen aus.  

Sie sagt, oh, ein Neuntöter!  

Wir bleiben stehen und spähen in unterschiedliche Richtungen und fragen, wo?, als wüssten wir, wonach wir Ausschau halten.  

Sie zeigt zu einem entfernten Busch, in dem ein einzelner Vogel sitzt, und erklärt uns leise und mit Begeisterung in der Stimme, dass dieser selten gesehene Vogel seine Insektenbeute säuberlich auf Dornen aufspießt, bevor er sie frisst. Dafür ist er bekannt. Der Killerwal unter den Singvögeln. Ihre Augen leuchten verzückt, wir nicken andächtig.  

Eine von uns liest am Tag mindestens ein Buch, mitunter zwei. Am Ende reicht ihr Lesestoff nicht aus und sie leiht sich was von uns. Zwischendurch fragt sie, ob wir was aus der Wirklichkeit hören wollen, die zu Hause einfach weiterläuft. Sie lässt es behutsam durch unseren Urlaubsfilter. Es sind Zahlen, Maßnahmen, Proteste. Es ist viel ‘Wir wissen noch nicht genug, um’ und ‘Wir wissen aber so viel, dass’ dabei. Wir schütteln die Köpfe. Herbst und Winter werden düsterer, als wir es jetzt ahnen können. Es kommen Maßnahmen, mit denen wir nicht gerechnet hätten, Proteste, die uns sprachlos machen, und eine politische Symbolik, deren historischer Kontext sich im Grabe herumdreht. Doch da sind wir noch nicht.  

Denn jetzt ist Sommer und das unbekannte, mutierende Biest kann uns in unserem Auenland nichts anhaben. Zu Hause verwelkt der Alltag unaufhaltsam vor sich hin. Hier gewittert es eines Nachmittags, dann wird es wieder warm und schwül, als wäre nichts gewesen.  

Damit wir uns auf Sofas und Handtüchern nicht wund liegen, rollen wir einmal am Tag Yogamatten aus und flowen uns durch halbstündige Sessions. Unter dem alten, kaum isolierten Bauernhausdach sind selbst eingerostete Glieder erstaunlich biegsam, rücklings und keuchend auf den Matten sinnieren wir, dass viele Menschen viel Geld für Hot Yoga ausgeben. Warum, wissen wir in diesem Moment nicht. Wir lösen uns von den Matten, gehen runter zum Fluss und lassen uns von ihm den Schweiß runterspülen.  

Vierzehn Tage sind wir hier und sammeln Bilder. Der steinalte Nachbar, der jeden Tag langsam, aber gründlich seinen Garten wässert. Wolken aus Staren, die zeternd von Baum zu Baum ziehen. In der Sonne trocknende Heuballen, wie Akzente auf die abgemähte Leinwand gesetzt. Katzen, die durch Gräser schleichen. Eingezäunte Stiere. Freilaufende Kühe. Störche, weiße und schwarze.  

Wir sammeln Geräusche und Gerüche. Das Zirpen der Grillen, das Geschrei der Vögel. Die Kirchenglocke Stunde um Stunde. Das Klappern des Storchs, der in der Einfahrt lebt. Das Plätschern des Flusses, das Summen der stechenden und beißenden Insekten. Der wunderbar beißende Duft des Sprays, durch das diese Insekten nicht hindurch kommen. Trockenes Heu, nasses Gras. Sonnencreme, Kaffee und Zimt zum Frühstück.

Am letzten Abend machen wir einen letzten Spaziergang. Etwas abseits der Landstraße ist links von uns Wald, rechts erhebt sich anderthalb Menschen hoch ein Maisfeld, weit über uns legt sich langsam eine blau-weiß-rosa-orangefarbene Decke. Die Grillen räuspern sich schon mal. Hier lässt sich vergessen, wo wir sind. Vielleicht Niedersachsen, vielleicht auch Kansas. Hier lässt sich vergessen, was eigentlich überall um uns herum gerade geschieht, in Niedersachsen und Kansas gleichermaßen.  

Wir stapfen geradeaus und drehen um, bevor es ernsthaft dämmert. Wir schießen Selfies von uns. Im Hintergrund das Ortsschild mit dem Ortsnamen, den niemand kennt. Im Vordergrund wir, eng umschlungen, erst grinsend, dann mit Schnuten. Der Urlaub ist vorbei. Ab morgen ist wieder Alltag, dessen neue Gestalt uns noch lange nicht geheuer ist. Ab morgen sind wir kein Haushalt mehr. Ab morgen ist wieder Ellbogengruß und anderthalb Meter aus Nächstenliebe.

Zu Hause wird das Auto säuberlich zwischen lauter anderen geparkt. Es klebt noch Landstraßenstaub an den Felgen. Wir sitzen in unseren Haushalten und sortieren getragene Tops und ungetragene Pullover auseinander. Eine von uns schreibt den anderen aus Sehnsucht. Wir anderen schreiben mit gleichem Pathos zurück. Wir wissen noch nicht, wann wir uns das nächste Mal umarmen werden. Wir gucken auf unsere Bildschirme und schicken ein Übermaß an Herz-Emojis hin und her. Der Alltag lauert vor der Tür. Doch noch klebt Flussdreck an unseren Füßen, Insektenspray in unseren Haaren. Für einen Moment noch ist Sommer.